Abgesagt – Räume ohne Anlass

Ein Foto-Projekt von Mario Baronchelli. März – Mai 2020.

Aufgrund der beschleunigten Übertragung des Coronavirus (COVID-19) stuft der Bundesrat am Montag, den 16. März 2020 die Situation in der Schweiz gemäss Epidemiegesetz als «ausserordentliche Lage» ein. Zum Schutz der Bevölkerung verschärft die Regierung bestehende Massnahmen. Neben Einreisebeschränkungen werden die Grenzen zu Nachbarländern kontrolliert. Der Aufruf «Bleiben Sie zuhause» wird zum Mantra einer ganzen Bevölkerung.

Die Massnahmen prägen einen neuen Alltag, denn sie tangieren fast jeden Lebensbereich. Der Präsenzunterricht in sämtlichen Bildungsinstitutionen wird verboten. Zudem müssen unter anderem Kultur- und Freizeitbetriebe, Messehallen und Kirchen, Kinos und Bibliotheken, Fitnesszentren und Schwimmbäder schliessen. Infolgedessen werden auch private und öffentliche Veranstaltungen abgesagt oder bis auf weiteres verschoben, Sportevents und Vereinsaktivitäten werden per sofort untersagt. Was zurückbleibt, von heute auf morgen, sind Räume ohne Anlass sowie Architekturen ohne Menschen.

Das Projekt «Abgesagt» dokumentiert diesen Ausnahmezustand – unaufgeregt und architektonisch fotografiert. Entstanden ist ein Zeitzeugnis, das jenseits von Sensationsjournalismus Einblicke in ihrer sozialen Funktion beraubte Bauten gewährt. Die Unterrichtsräume in Primarschulen oder Universitäten, wo Lehrende und Lernende aufeinandertreffen, sind leer. Bühnen, auf denen Tänzerinnen, Musiker oder Schauspieler in Interaktion mit dem Publikum treten, bleiben ungenutzt. Die Schwimmbecken in Badeanstalten führen kein Wasser, über Kinoleinwände flimmern keine Filme mehr. Der Zugang zu Orten, die Menschen üblicherweise in ihrer Freizeit aufsuchen, bleibt verwehrt.

Während die Räume für die Öffentlichkeit geschlossen bleiben, wird hinter den Kulissen gearbeitet, renoviert, gewartet oder gepflegt – seien dies Pflanzen, Tiere oder Geräte. Zutritt zu den Räumlichkeiten geben oft Hauswarte, aber auch Medienverantwortliche oder Eigentümerinnen. Im dunklen Casino begleitet ein freundlicher Security-Mitarbeiter das Fotografieren auf Schritt und Tritt. Ansonsten ist in jedem Gebäude freies Arbeiten möglich.

«Abgesagt» nimmt den Betrachter mit einer ruhigen Bildsprache unaufdringlich auf eine Reise quer durch die Ostschweiz mit. Auf der Projektwebsite sind mittlerweile über 30 Räume ohne Anlass zu sehen, die während acht Wochen fotografiert wurden. Bei der Auswahl der Fotosujets wurde bewusst darauf verzichtet, Orte zu zeigen, die von der Presse schon zur Genüge abgelichtet wurden, wie Bahnhöfe, Einkaufs- oder Stadtzentren. Der Fokus liegt auf Innenräumen aus dem Kultur- und Freizeitbereich. So zeigen die Bilder denn auch den kulturellen Stillstand und Räume, die sich selbst überlassen wurden. Zudem transportieren die Fotografien das Gefühl des Wartens auf einen Neustart des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens.
 

Dieses Fotoprojekt sammelte Ostschweizer Räume während der ausserordentlichen Lage.
Das Projektziel ist noch offen (Ausstellung, Publikation, …).
Anfragen gerne an: 079 229 34 00 oder foto@mariobaronchelli.ch

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Zur Bedeutung von Räumen und Orten für Menschen – einige raumsoziologische Gedanken

Was passiert mit Menschen, wenn sie Konzert nicht besuchen oder Bildungs-, Freizeit- und Sportangebote nicht nutzen? In raumsoziologischer Perspektive verweist dies auf die Frage der sozialen Funktion von Räumen und Orten. Also weniger die bauliche Beschaffenheit oder die architektonische Strahlkraft steht im Fokus des Interesses. Vielmehr die Fragen, was die Menschen an diesen Orten tun, welche Motive sie bewegen diese aufzusuchen und welche Bedeutung mit diesen Orten in Verbindung gebracht werden. Ihre gelebten Praktiken und Interaktionen rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Und wenn wir diese Perspektive einnehmen wird rasch deutlich, dass das, was einen Raum ausmacht erst in einem Zusammenspiel von baulich-architektonischer Welt und dem sozialen Bedeutungsgehalt zum Vorschein kommt. Dabei gilt es zu beachten, dass die soziale Funktion von Räumen und Orten deutlich weiter gehen als die offizielle. Oft sind es gerade auch die mehr oder minder verborgenen Nebenschauplätze und verdeckte Motive des Handelns, welche für Menschen eine zentrale Bedeutung haben.

Thomas Knill
Sozialarbeiter und Dozent FHS St. Gallen

Referenzen: Diebäcker, Marc & Reutlinger, Christian (2018). Soziale Arbeit und institutionelle Räume – Explorative Zugänge. Wiesbaden: Springer VS
Löw, Martina (2001). Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Danksagung

Herzlichen Dank für die freundliche und unkomplizierte Unterstützung:

Botanischer Garten St.Gallen,
Boulodrom St.Gallen,
Bruder Klaus Kirche Winkeln,
Casino St.Gallen,
Connyland Lipperswil,
FHS St.Gallen,
Freizeitanlage 1001 Amriswil,
Freizeitpark Niederbüren,
Grabenhalle St.Gallen,
Hallenbad Blumenwies St.Gallen,
Palace St.Gallen,
Kartbahn Fimmelsberg,
Kino Roxy Romanshorn,
Kletterzentrum St.Gallen,
Kunstmuseum Appenzell,
Lokremise St.Gallen,
Löwenarena Sommeri,
MV Eintracht Güttingen,
Mehrzweckhalle Muolen,
Naturmuseum St.Gallen,
Olma Messen St.Gallen,
Paul Grüninger Stadion St.Gallen,
Pentorama Amriswil,
Säntisbahnen Schwägalp,
Schützenhaus Güttingen,
Sedel Kinderparadies Herisau,
Theater an der Grenze Kreuzlingen,
Theater St.Gallen,
Tonhalle St.Gallen,
Update Fitness St.Gallen,
Volksbad St.Gallen

© Mario Baronchelli